18 Apr 2022
Mit Hilfe des Tissue Engineering werden zellbasierte, kultivierte Produkte wie dieses Lachs-Nigiri hergestellt. Foto: Wildtype / CC BY.
Cellular Agriculture – oder zelluläre Landwirtschaft – ist ein wichtiger Eckpfeiler des sich rasant entwickelnden New-Food-Sektors. Hierzu gehören pflanzliche und mikrobielle Alternativen sowie solche auf Basis von tierischen Zellen wie zum Beispiel Insekten. Sie wird in den nächsten zehn Jahren rasch an Bedeutung gewinnen und eine wichtige Rolle bei der Deckung des künftigen Nahrungsmittelbedarfs spielen. Gleichzeitig entlastet sie die derzeitigen Lebensmittelproduktionssysteme und die Umwelt.
In der zellulären Landwirtschaft werden einzelne Zellen von Pflanzen und Tieren oder einzellige Organismen zur Herstellung landwirtschaftlicher Produkte verwendet. Dazu zählen Fleisch, Meeresfrüchte, Milchprodukte und andere eiweißreiche Lebensmittel sowie funktionelle Inhaltsstoffe, die entweder durch Gewebezüchtung, dem sogenannten Tissue Engineering, oder durch Präzisionsfermentation (Precision Fermentation) hergestellt werden, ohne dass ganze Tiere oder Pflanzen gezüchtet werden müssen.
Tissue Engineering wird für die Produktion von zellbasiertem bzw. kultiviertem Fleisch, Meeresfrüchten und Milch eingesetzt. Zellbasiertes Fleisch und Meeresfrüchte entstehen, indem einem lebenden Tier Stammzellen entnommen und in einem Bioreaktor mit einem nährstoffreichen Medium gezüchtet werden. Die Zellen lassen sich in verschiedene Typen – Muskel- oder Fettzellen – differenzieren und werden dann entweder auf einem Scaffold, einer Art Zellwachstumsgerüst, gezüchtet oder ohne Struktur, zum Beispiel in Form von Hackfleisch, weiterverarbeitet.
Ein ähnliches Verfahren wird zur Herstellung von Milch auf Zellbasis verwendet. In diesem Fall werden Milchdrüsenzellen in einem Hohlfaser-Bioreaktor immobilisiert. Im Ergebnis scheiden die Zellen Muttermilch aus, die je nach Zellquelle das gleiche Makronährstoff-Profil aufweist wie Kuh- oder menschliche Muttermilch.
Precision Fermentation ist eine Erweiterung etablierter Methoden, die in der Lebensmittel- und Pharmaindustrie bereits weit verbreitet sind. Bei diesem Verfahren wird beispielsweise das Gen, welches ein Zielprotein kodiert, einem Spenderorganismus (z. B. einer Kuh) entnommen und in die DNA eines Wirts eingefügt. Häufig fungieren einzellige Organismen wie Bakterien oder Hefen als Wirte. In einem Gärtank wird der Wirtsorganismus sowohl vermehrt als auch die Produktion des Zielproteins induziert. Dieses wird von den Wirtszellen abgetrennt, gereinigt und in der Regel getrocknet. Das dabei entstehende Pulver kann beispielsweise als Süßstoff, als Zutat für Speiseeis oder als Kollagen verwendet werden.
In ähnlicher Weise kommt Precision Fermentation bei der Herstellung von Pflanzenbestandteilen wie Sojahäm zum Einsatz. Dabei wird DNA aus einer Sojapflanze entnommen und mittels Gentechnik in eine Hefe eingebracht. Nach der Fermentation kann das Sojahäm, das dem tierischen Häm ähnelt, in Fleischanaloga verwendet werden, um ihnen eine rote oder rosa Farbe, eine fleischähnliche Textur und einen fleischähnlichen Geschmack zu verleihen.
Mit dieser Methode lassen sich auch Enzyme, Seide und Leder herstellen, denn sie basieren ebenfalls auf Proteinen. Doch nicht nur das: Auch nicht proteinbasierte Bestandteile wie Fette oder Oligosaccharide aus menschlicher Muttermilch – wichtig für Muttermilchersatzprodukte – lassen sich damit kreieren.
Die Fermentation ermöglicht die effiziente Herstellung von Sojahäm (Leghämoglobin), das zunehmend in der industriellen Lebensmittelproduktion eingesetzt wird. Dies ist ein echter Durchbruch, da die Sojaknollen nicht erst geerntet werden müssen. Ein positiver Nebeneffekt: Auch die Freisetzung von im Boden gespeichertem Kohlenstoff und die Erosion verringern sich. Bild: Impossible Foods
Die zelluläre Landwirtschaft hat das Potenzial, die Nahrung und auch andere Non-Food-Produkte bereitzustellen, die eine wachsende Weltbevölkerung benötigt – jedoch ohne dabei zusätzliche Flächen zu beanspruchen oder unsere natürlichen Ressourcen weiter zu strapazieren.
Weil sämtliche Produktionsprozesse in einer kontrollierten Umgebung stattfinden und weitgehend auf etablierten Technologien beruhen, liegen die Vorteile auf der Hand. Lebensmittel aus der Cellular Agriculture:
Bis zur Industriereife und Preisparität von Produkten der zellulären Landwirtschaft sind noch einige Hürden zu überwinden.
Für das Tissue Engineering von Nahrungsmitteln bedeutet dies unter anderem:
Für Precision Fermentation umfasst dies:
Es wird Jahrzehnte dauern, bis das ganze Potenzial von Cellular Agriculture erschlossen ist, aber wir können bereits jetzt einiges tun, um die Entwicklung zu beschleunigen. Zum einen können wir zunächst auf die aussichtsreichsten Verfahren setzen, etwa den Einsatz von bereits zugelassenen Hefestämmen in Precision-Fermentation-Prozessen. Eine weitere Möglichkeit sind Hybridprodukte. Hier werden zellbasierte Komponenten in pflanzlichen Lebensmitteln eingesetzt, um deren Geschmack, Konsistenz und Nährwert zu verbessern. Außerdem können Scaffolds, die Strukturen der extrazellulären Matrix in Fleisch nachahmen, auf Pilz- und Pflanzenbasis für die Kultivierung von Muskelzellen verwendet werden, wodurch die Produktionskosten sinken.
Auf der Makroebene sollten sich die Regulierungsbehörden bereits heute mit den nötigen Voraussetzungen für die Markteinführung innovativer Lebensmittel auseinandersetzen – und nicht erst, wenn die ersten Anträge eingehen. Davon würden alle Beteiligten profitieren, und neue Produkte ließen sich schneller und effizienter am Markt einführen. Ein weiterer, ebenso offenkundiger wie wichtiger Faktor sind verstärkte Investitionen in Start-ups und Unternehmen, die sich auf Cellular Agriculture spezialisiert haben. Nur so können Forschung und Entwicklung beschleunigt und die Produktion gesteigert werden – wobei natürlich auf den konsequenten Einsatz erneuerbarer Energien zu achten ist.
Und zu guter Letzt muss Vertrauen bei den Verbrauchern aufgebaut werden, damit sich derartige Produkte durchsetzen können. Deshalb ist es zwingend notwendig, Verbraucher regelmäßig und offen über die Herstellungsverfahren zu informieren und den Zusammenhang zu bereits etablierten Lebensmitteln und Medikamenten herzustellen, die Menschen tagtäglich konsumieren – ganz gleich, ob es sich um Käse oder um Insulin handelt.
Laut einer Prognose von McKinsey & Co. wird kultiviertes Fleisch bis 2030 die Preisparität mit konventionell erzeugtem Fleisch erreichen. Es ist also jetzt an der Zeit, diese Diskussionen zu führen.
Dieser Artikel ist ein Nachdruck des Originals von Ilija Aprcovic, Chief Executive Officer, Liquid and Powder Technologies, GEA: Is cellular agriculture the climate-friendly answer to growing food demands? | World Economic Forum (weforum.org)