08 Jan 2024
Die Welt liebt Milchprodukte. Indien ist unangefochtener Spitzenreiter in Konsum und Produktion von Milch; aber auch die Europäische Union und die USA sind nach wie vor große Hersteller, Verbraucher und Exporteure. [1,2] Die Chinesen importieren die meisten Milchprodukte und verbrauchen täglich mehr pro Kopf. [3] Eine Studie von Juni 2023 prognostiziert, dass das Volumen des Weltmarkts für Milchprodukte von 2022 bis 2028 um nahezu 40 Prozent auf 1.243 Milliarden US-Dollar wachsen wird. [4] Das Geheimnis liegt in der Milch selbst: einer nährstoffreichen Quelle aus Kompletteiweiß mit geschmacklichen und physikalischen Eigenschaften, die sich für unzählige beliebte Lebensmittel und Getränke eignen. Milchprodukte nähren seit Menschengedenken Körper und Seele. In vielerlei Hinsicht und in vielen Teilen der Welt sind sie die ultimativen Wohlfühlspeisen.
Doch obwohl Kühe dank beeindruckender Fortschritte in der Milchviehhaltung heute wesentlich mehr Milch geben, können wir nicht erwarten, dass diese treuen Tiere die ständig wachsende weltweite Nachfrage weiterhin decken werden. Mit Blick auf das Wohl unseres Planeten wäre das ohnehin keine gute Idee. Einen Ausweg böte die Präzisionsfermentation, denn sie verbindet die Ethik und Nachhaltigkeit von pflanzlicher Milch mit dem unübertroffenen Geschmack, der Textur und dem Nährwert des Originals. Davon sind immer mehr Experten, Lebensmittelunternehmen und Investoren überzeugt.
Der israelische Foodtech-Pionier ImaginDairy mit Sitz in Haifa ist einer der Vorreiter in der Herstellung von Milchproteinen durch Präzisionsfermentation. Mit modernen Technologien der computergestützten Biologie und der Molekularbiologie verbessert ImaginDairy Effizienz und Ertrag von präzisionsfermentierten Milchproteinen. Roni Zidon-Eyal, Vice President für Business Development bei ImaginDairy, bringt es auf den Punkt: „Wir liefern die Proteingrundlage für erstklassige nicht-tierische Milchprodukte ohne Qualitätsabstriche im Vergleich zu den traditionellen Milchprodukten, die wir alle kennen und lieben.“
Das Unternehmen entwickelt sich rasant. 2020 noch wollte ImaginDairy alle sechs in der Kuhmilch enthaltenen Molken- und Kaseinproteine nachbilden, weil die Wissenschaftler wie viele davon ausgingen, der gesamte Proteinkomplex sei notwendig, um die Eigenschaften von Milch zu imitieren. Schnell jedoch stellte sich heraus, dass ein einziges Molkenprotein ausreicht: Beta-Lactoglobulin. „Unsere präzisionsfermentierte Molke, die den 3,4-prozentigen Eiweißgehalt von Milch aufweist, genügt tatsächlich, um köstliche Milch, Eiscreme und Frischkäse herzustellen, die genauso schmecken und sich auch so verhalten wie die echte Milch“, sagt Zidon-Eyal. Das Unternehmen war sogar in der Lage, Joghurt mit einer Proteinmatrix herzustellen, die ausschließlich aus Molke besteht. Für Zidon-Eyal verdeutlicht das einen der größten Vorteile von Milch- gegenüber Pflanzenproteinen: „Weil wir mit einem echten Milchprotein arbeiten, brauchen wir keine Stabilisatoren oder Zusatzstoffe, um andere Aromen zu neutralisieren. Unser Joghurt hat genau vier Zutaten.“
Joghurt (Bild: ImaginDairy/Sarit Goffen)
ImaginDairy ist mit seiner Molke so erfolgreich, dass sich das Unternehmen nun auf die Markteinführung dieses einen Proteins konzentriert. „Viele von uns kommen aus der Herstellung von Lebensmittelinhaltsstoffen und wissen, dass wir uns stärker fokussieren müssen, um den Sprung von einem ‚coolen Biotech-Unternehmen‘ zu einem etablierten Anbieter zu schaffen“, sagt Zidon-Eyal. Der Ansatz scheint zu funktionieren. Im April 2023 erwarb Danone eine Minderheitsbeteiligung; damit ist ImaginDairy das erste Unternehmen im Danone-Portfolio, das Milchproteine durch Fermentation herstellt.
Roni Zidon-Eyal
Vice President of Business Development, ImaginDairy
So vielversprechend das alles auch klingen mag: Noch haben Unternehmen wie ImaginDairy einen schweren Stand. Um auf der Kostenseite mit traditionellen Milchprodukten mithalten zu können, bedarf es kontinuierlicher Innovationen – sowohl in der Biotechnologie als auch in der Produktion. Die Präzisionsfermentation kann zwar bei Produkten wie Insulin und Lab eine jahrzehntelange Erfolgsgeschichte vorweisen, doch werden diese hochwertigen Artikel nur in Kleinstmengen produziert. Essbare Proteine wie Molke oder Kasein müssen in erheblich größeren Mengen hergestellt werden. „Unsere Mikroorganismen sind sehr effizient, aber um die nötigen Proteinmengen bereitstellen zu können, brauchen wir auch extrem effiziente industrielle Produktionsverfahren“, erklärt Zidon-Eyal.
Anregungen, wie solche Prozesse aussehen könnten, sammelt das ImaginDairy-Team regelmäßig im New Food Application and Technology Center of Excellence (ATC) von GEA in Hildesheim. Die Pilotanlage für Zellkultivierung und Fermentation hilft Unternehmen, Innovationen schnell vom Labor in den kommerziellen Maßstab zu überführen. Dr. Antje Begerad, Ingenieurin und Deputy Head of Sales New Food bei GEA, erklärt, worauf es bei der kommerziellen Massenherstellung von Milchproteinen und anderen Inhaltsstoffen mit Präzisionsfermentation ankommt. „Wie Kühe brauchen Mikroorganismen die richtige Pflege, damit sie das gewünschte Endprodukt herstellen. Sie haben komplexe Anforderungen, und es ist sehr schwierig, diese biologischen Anforderungen in großen Maschinen innerhalb eines industriellen Produktionssystems zu erfüllen. Im Reagenzglas lassen sich Mikroorganismen deutlich leichter züchten als in einem 500- oder gar 200.000-Liter-Fermenter.“
Vor allem vier Punkte fordern die Technologen bei der Präzisionsfermentation im industriellen Maßstab heraus:
Im ATC simulieren die GEA-Ingenieure mit Hilfe von digitalen Zwillingen das Mischverhalten verschiedener Lösungen. „Der entscheidende Vorteil ist, dass Unternehmen im ATC ihre Tests direkt in 50- und 500-Liter-Bioreaktoren durchführen können“, sagt Begerad. „Dann wissen sie, ob ihre Zellen in dem System gut gedeihen oder nicht.“
Bei der Herstellung von Produkten wie dem Molkenprotein ist die Fermentation aber nur ein Teil des Prozesses. Daneben kommt es auch auf die Herstellung des Nährmediums sowie auf Sterilisation, Trennung, Homogenisierung, Filtrierung und Sprühtrocknung an. „Das sind alles Bereiche, in denen die meisten Unternehmen nicht viel Erfahrung haben“, so Begerad. „Nach der Fermentation muss jedes von einem bestimmten Organismus produzierte Protein im weiteren Verlauf des Prozesses etwas anders behandelt werden.“ Im ATC kann GEA gemeinsam mit den Kunden für jedes System die richtigen Parameter ermitteln und die Einstellungen so lange nachjustieren, bis sie optimal auf den Mikroorganismus und das Endprodukt abgestimmt sind.
Für die Hersteller alternativ gewonnener Proteine – sei es zellkultiviertes Fleisch oder präzisionsfermentierte Milchproteine – ist die Skalierung der Produktion in der Tat eine zentrale Herausforderung. Roni Zidon-Eyal betont, dass es bei der Zusammenarbeit mit GEA um mehr als die Skalierung geht. „Das Schöne am ATC ist auch, dass wir hier so einen tiefen Einblick in den gesamten Produktionsprozess erhalten – buchstäblich vom Anfang bis zum Ende“, sagt sie. „Wir können uneingeschränkt mit unterschiedlichen Maschinengrößen und einer Reihe von Variablen experimentieren. Wir können unterschiedliche Fertigungslinien aufbauen und direkt sehen, wie sich die Prozessschritte auf das Endergebnis auswirken. Es geht also vor allem um eine intelligente Skalierung. Wir wissen, dass unser Erfolg – vielleicht sogar der Erfolg der gesamten Branche – davon abhängt, dass wir für jedes einzelne Endprodukt extrem effiziente Produktionsprozesse konzipieren.“
Dr. Antje Begerad
Deputy Head of Sales New Food, GEA
ImaginDairy arbeitet bereits im großen Maßstab mit Auftragsfertigern, den sogenannten Contract Manufacturing Organizations (CMO), zusammen, konzentriert sich mit GEA aber auf weitere Prozessverbesserungen. „Mit Blick auf die Zukunft wollen wir Mega-Linien für unsere Produkte konzipieren. GEA und das ATC helfen uns, viel mehr darüber zu lernen, wie wir die industriellen Prozesse weiter optimieren können. Dadurch werden wir die bestmöglichen Fertigungsanlagen und -systeme nutzen können, wenn wir irgendwann bereit sind, die Produktion selbst zu übernehmen“, sagt Zidon-Eyal.
Roni Zidon-Eyal
Vice President of Business Development, ImaginDairy
Seit 2020 die ersten nicht-tierischen, mit Präzisionsfermentation hergestellten Milchprodukte auf den Markt kamen, hat sich der Sektor rasant vergrößert und weiterentwickelt. 2022 gab es nach Angaben des Good Food Institute 62 Unternehmen, die sich auf diese Herstellung alternativer Proteine spezialisiert haben; rund 40 davon konzentrieren sich auf Milchprodukte. [5]
ImaginDairy und das US-Unternehmen Perfect Day gehören zu denjenigen, die sich auf Molkenproteine konzentrieren. Andere, wie Change Foods, priorisieren Kaseine für nicht-tierische Käseprodukte. Yali Bio beginnt gerade, Präzisionsfermentation zur Herstellung von Milchfetten einzusetzen. Einige, wie Bored Cow, bauen ihre eigenen Produktmarken auf, während andere ausschließlich im B2B-Sektor bleiben. Das Größenspektrum reicht von Start-ups bis zu großen Lebensmittelkonzernen wie General Mills und Danone. Trotz des Wettbewerbs auf dem Markt betont Roni Zidon-Eyal den kollaborativen Charakter ihres gemeinsamen Vorhabens: „Wir wollen einen grundlegenden Wandel herbeiführen, und das kann kein Unternehmen allein schaffen.“
Keinesfalls sollen die neuen alternativen Proteine tierische oder pflanzliche Milchprodukte dabei komplett ersetzen. Denn präzisionsfermentierte Milchproteine können nicht nur neue Milch-, Eiscreme-, Frischkäse- und Joghurtvarianten dem Original täuschend ähnlich machen, sondern auch pflanzliche Alternativen verbessern. Sie lassen sich sogar in herkömmlichen Milchprodukten einsetzen, um deren CO2-Fußabdruck zu reduzieren.
Vorerst besteht eine zentrale Herausforderung darin, die Ausbeute der Mikroorganismen so zu erhöhen, dass Lebensmittel- und Getränkehersteller zuverlässig die Proteinmenge für neue Produkte erhalten. Erst dann geraten Qualität und Kosten ins Lot – und erst dann haben Konsumenten eine echte Chance, sich zwischen den Alternativen entscheiden zu können. „Das ist letzten Endes unser Ziel“, sagt Zidon-Eyal. „Wir wollen den Verbrauchern mehr Wahlmöglichkeiten geben und natürlich immer mehr Menschen für unsere Produkte gewinnen.“
Speiseeis (Bild: ImaginDairy/Sarit Goffen)
Quellen:
[1] https://ourworldindata.org/grapher/milk-production-tonnes?tab=chart
[2] https://www.statista.com/statistics/272003/global-annual-consumption-of-milk-by-region/
[4] https://www.statista.com/statistics/502280/global-dairy-market-value/
[5] https://gfi.org/wp-content/uploads/2023/01/2022-Fermentation-State-of-the-Industry-Report-1.pdf
Lange bevor er wusste, was Mikroorganismen eigentlich sind, hat der Mensch schon Mikroorganismen eingesetzt, um Lebensmittel und Getränke haltbar zu machen und aufzuwerten. Mit wachsenden mikrobiologischen und biochemischen Kenntnissen haben wir gelernt, diesen natürlichen Prozess immer exakter zu steuern. Dank der rasanten Fortschritte im Bereich der Genetik, des Bio-Engineering und der KI ist das neueste Fermentationsverfahren – die Präzisionsfermentation – inzwischen so gut, dass wir Mikroorganismen wie Minifabriken zur Herstellung einer riesigen Palette an nützlichen Verbindungen einsetzen können. Das Beste dabei ist, dass diese Einzeller deutlich effizienter und nachhaltiger sind als die bisher eingesetzten Methoden. Die Präzisionsfermentation verbindet die fabelhafte Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft von Mikroben mit moderner Wissenschaft und Technologie – und erstarkt genau zum richtigen Zeitpunkt für uns und unseren Planeten.
(Bild: Solar Foods)